Dieser tanztheatrale Abend der Wiederaufführung zweier Choreographien ist ästhetisch hoch erfreulich und macht zugleich nachdenklich: Wie ist das denn mit den Bedeutungen und Deutungen von Raum und Zeit heute? Und richtig: Der Theatersaal ist kein Philosophieseminar. Andererseits bietet die Bremer Schwankhalle mit diesem Programm auch nicht die Bühne etwa für einen Komödienstadel. Zudem leben wir ja nicht gerade in so friedvollen Zeiten, wie viele noch bis vor gar nicht so langer Zeit annahmen. Und aller widerwärtigen Ein- und Ausgrenzungen zum Trotz prägen auch heute Katastrophen und Kriege das Gelände.
Und da also präsentiert das Choreografen-Duo Kor'sia aus Madrid seinen "ORT": eine Bushaltstelle im dunklen Niemandsland, einen Ort eher abweisend, triste und öde, des Nachts geradezu ein berüchtigter, tragisch beladener Unort nicht nur der Frauen- und Fremdenfeindlichkeit. Assoziationen eines unheilvollen Ortes, einsam im Neonlicht wie auf einem Präsentierteller... Und dann...
... kommt da jemand. Zieht Gefahr auf? Nicht ausgeschlossen.
Im Blitzlichtgewitter tauchen sie auf, einzeln, zu zweit., mehrere, Frauen und Männer. Wunderschöne Momentaufnahmen, Sekunden-Stills. Sie brechen die anfängliche Verlorenheit und Anonymität auf. Eine Collage rapider Bewegungsabläufe der Freude, Liebe, aber auch Furcht. Spielerische Gesten, teils übergriffig und aggressiv, in atemlosen Übergängen. Das alles akustisch eingehüllt in wirkungsvoll soundige Musik und Klänge. Die Deutungshoheit liegt ganz beim Publikum.
Der "ORT" verbleibt, so meinen wir und spoilern nicht, vielbedeutend im künstlerisch Alltäglichen, weder ein Nicht-Ort (Marc Augé) noch tragischer Unort.
ORT & UN-ZEIT - Trailer from TanzRaum Nord on Vimeo.
Die großartige Tanzkompanie of curious nature bestreitet auch die zweite Choreografie UN-ZEIT von Helge Letonja, seit 2019 künstlerischer Leiter des Ensembles.
Der musikalisch kraftvolle Beginn mit der 4.Sinfonie des polnischen Komponisten Henryk Mikolaij Górecki (1933-2010) weckt bereits erste Assoziationen an Strawinskys "Frühlingsopfer", mit seinen akzentuierten Marschrhythmen und Schlagwerken, welche wie Donnerhall aus dem Dunkel des Bremer Saales erschallen (Auszüge des LPO s.u.).
Und zugleich ruft dieses stampfende Dröhnen vor unsere Augen und Ohren Russlands Truppen bei der Generaloffensive auf die Ukraine, genau als Helge Letonja 2022 an der Choreographie zu diesem Stück arbeitete.
Nach dieser sinfonischen Ouverture schält sich aus wabernden Nebelschwaden gelenkig eine erste Performerin. Ihre Gestik erinnert die Rezensentin Martina Burandt von Tanznetz (29.5.2022) genau:
"Ihre Arme bewegen sich windend, kämpfend, dann wieder gerade, lang und geometrisch wie die Zeiger einer Uhr, in einer Zeit, die abzulaufen droht." UN-ZEIT?
Diese Frage lässt sich angesichts der rasant vorgetragenen Aktionen sowie unter dem fast überwältigenden Eindruck der Musik kaum stellen vor Ort.
Von höchster Dynamik der gesamte sich nicht aufsparende Einsatz des Ensembles und seiner neun Körper, ihrer Gliedmaßen, aufeinander zu voneinander weg, aneinander zerrend, schiebend, im Nebel verschwindend, daraus auftauchend, mit angstverzerrten Gesichtern, im Rausch der Musik.
Alles im Umbruch und die Ungewissheit: Wohin denn nur? Und wie und mit wem?
Unter den Klängen von Góreckis Sinfonie und der mitreißenden choreografischen Performance von Letonjas Tanztruppe lebt auch eine nachhaltige Erinnerung wieder auf: an die ikonische "Frühlingsopfer"-Passion von Pina Bausch.
Eine geniale Rückkoppelung an diesem Abend.
UN-ZEIT - Trailer from TanzRaum Nord on Vimeo.
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Fulvia Milton (Mittwoch, 07 Februar 2024 08:38)
Great review!
Wide-ranging, sensitive to all aspects of dance-theatre, and very well written - evocative.
I wish I could see it.