Mutterland, Kiew (2023)
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Gemälde von Nazanin Pouyandeh
Gemälde von Nazanin Pouyandeh


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NOMADA

Fotografie: Marianne Menke,   für NOMADA, Instagram klicken x Reel
Fotografie: Marianne Menke, für NOMADA, Instagram klicken x Reel

 

 

Ein Moment von Schönheit

 

 

 

Nomada, der Titel des neuen Stücks von Helge Letonja mit den Of Curious Nature in der Bremer Schwankhalle, berührt, weil er spontan auf eine geheimnisvolle, poetische Fährte führt, wenn es im Text der Ankündigung heißt, es gehe dabei, um 

„die nicht Greifbare, die ihre Zelte längst abgebrochen hat, die dich aus der Fassung bringt… auf verschlungenen Pfaden als archaisch schreitender Körper und körperlos in der digitalen Welt, mühelos zwischen den Umgebungen wechselnd.“ Sie entstehe „zwischen tanzenden Körpern, uralten Mythen und videografischen Bildern und lässt scheinbar unverrückbare Gegensätze aufeinanderprallen... lacht den nahenden Veränderungen entgegen, nutzt jede Chance zu entkommen, begegnet dir im Traum…“

Und... 

Fotografie: Marianne Menke
Fotografie: Marianne Menke

 

...diese Worte machen auch direkt betroffen, rufen sie doch einerseits ein jahrhundertealtes diskriminiertes und verfolgtes Phänomen auf wie auch andererseits die aktuell so oft diffamierten Millionen Geflüchteter in aller Welt. Und vielleicht schadet es da nichts angesichts derer, die auf ihr "Deutschtum" pochen, zu erinnern, dass ebenfalls die germanischen Stämme einst nichts anderes waren als Nomaden.

Nomadisierung ist also weder historisch noch wegen der durch Klima-, Armuts- und Hungerkrisen Entwurzelten ein Grund für Abgrenzung und Verteufelung unsererseits, so wenig wie gegenüber den jungen Generationen, die in ihre digitalen Welten emigrieren.

 

Fotografie: Marianne Menke
Fotografie: Marianne Menke

 

Im Interview mit Ute Schalz-Laurenze vor der Premiere betont der Choreograf Helge  Letonja, worum es ihm eigentlich immer und auch in dieser neuen Produktion geht, nämlich darum „Tanz als eine die Gesellschaft verbindende Kunstform zu entdecken. Zwischen den Kulturen steht der Körper im Mittelpunkt“, was uns alle verbinde, denn Tanz sei „niemals elitär, sondern kann uns  Chancen für Perspektivwechsel aufzeigen. Es ist immer die Frage, wie wäre ich, wenn ich ein anderer wäre.“ Das ist eine Thematik, die die Künste und Künstler:innen unentwegt umtreibt: die „der Andersartigkeit nicht als Bedrohung“, sondern als Möglichkeit der „Transformation und Auflösung der Körper“, auf dass Neues sichtbar werde.

 

Soweit , was wir vor der Premiere wussten, dachten und vielleicht erahnen konnten. 

 

Foto: KUNO
Foto: KUNO

 

Aber dann werden wir vom Backstage aus ins Dunkel der Bühne gebeten zu einem unerwarteten Prolog: Und wir erleben, was Dramaturgin Anke Euler auf dem Theaterzettel möglicherweise mit einem heutigen "Traum nomadischer Kulturen" meinen könnte: ein Eintauchen in die virtuelle Welt völliger Schwärze, durchzogen von wabernden, mäandernden digitalen meist weißen Linien und Formen, Zeichen und Zeichnungen in permanenter Transformation auf Boden und Wänden und auf zwei schwebenden halbrunden Raumteilern aus durchscheinender Gaze.

Diese überraschende Installation aus poetischen Videobildern und sphärischen Klängen von derart unglaublicher Faszination verantworten Isabel Robson (Videokunst und Bühne) sowie Miguel Marin (Komposition). 

 

Und fürwahr ein Einstieg, der dem Tanz genau jene ästhetische Dimension eröffnet, die er in dem Begriff des Tanztheaters schon längst gefunden zu haben schien. Oder ist der in Vergessenheit geraten? Hier in der Schwankhalle erfährt man an diesem Abend sinnfällig: keineswegs!

 

 

Foto: KUNO
Foto: KUNO

 

Im Licht der Bühne entwickelt sich die Klangkulisse zu einem musikalischen Ereignis mit choralen Einsprengseln und einer Vielfalt von Verweisen aus der Welt der Töne.

Und die sieben Tänzer:innen der Of Curious Nature geben sich eben gerade jenem  Tanz-Theater hin. Mit einer Frische und einem Enthusiasmus, was an die legendären Produktionen des Frühlingsopfers erinnert. Das Opfer jedoch scheint hier zu fehlen, wenn auch in mancher Szene verständnisinnig präsent wie bei Körperbewegungen zu den Worten "boat, woman, kids". Wie wenig wird hier solch Opferrolle bedient, ebenso wenig auch die des auratischen Helden auf dem Tanzfeld. Nein, nicht Soli und Solist:innen fehlen. So großartig sie hier performen, werden sie doch vielmehr und fühlen sich auch dialektisch eingebunden ins Ensemble. Seine Gemeinschaft vermittelt die kreative Kraft wie in den wenigen, fast sakral anmutenden Sterbeszenen, nicht in purer Verzweiflung zu versinken.

Denn dieser Abend mit dieser Produktion schenkt ganz sinnlich Freude an der Schönheit, und nicht weltabgewandt, sondern in vollem schöpferischen Bewusstsein, Kunst zu schaffen in dieser Welt mit ihrer oft grausamen und hässlichen Realität. Und diese Kunst zu erleben und die Erfahrungen an andere weiterzugeben.

 

 

 

September 2024                                                                                                          Paul Kroker

 

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Kommentare: 1
  • #1

    Franca (Sonntag, 29 September 2024 20:34)

    What you write about the play goes deep into the essence of tragedy and into the heart of beauty.
    And KUNO's photos are very beautiful.