In ihrer Laudatio auf Serhij Zhadan, den Friedenspreisträger des Deutschen Buchhandels 2022, zitiert Sasha Marianna Salzmann die junge Besucherin eines Konzerts mit Serhij Zhadan und seiner Band, dem verdanke sie, die ukrainische Kultur für sich entdeckt zu haben. Und die Laudatorin selbst sieht sich bei dem reichen poetischen Oeuvre des Autors immer wieder an die Gemälde von Pieter Bruegel erinnert, diese „hektischen Wimmelbilder, die so aufregend sind, dass man, unfähig wegzuschauen, nicht anders kann, als den Wegen der Porträtierten nachzuspüren. Zhadan malt Tableaus, auf denen unvergessliche Randgestalten sich in das Bewusstsein der Leserschaft hineinsaufen und hineinraufen, sich einmeißeln in das Narrativ einer sich neu verortenden ukrainischen Gesellschaft.“
Wenige Jahre noch vor der ersten russischen Aggressionswelle auf der Krim und im Osten des historisch mehrfach geschundenen Landes wird der Roman Vorošilovgrad (2010, Charkiw) veröffentlicht, der im Jahr von Putins Totalangriffs in deutscher Übersetzung unter dem Titel Die Erfindung des Jazz im Donbass erscheint. Der ukrainische Titel bezieht sich auf die jahrzehntelange sowjetische Benennung der Stadt Luhansk. Eher spielerisch dagegen der von Suhrkamp, der pars pro toto auf die Geschichte anspielt, die der Ich-Erzähler im letzten Drittel des Romans seiner geliebten Freundin Olga aus einem zerlesenen Buch vorliest und die mit einem „Jazz-Chorgesang“ endet, dessen Melodie „immer wieder von weltbekannten Musikern, so von Chet Baker und Charlie Bird Parker“ gespielt wird.
Da ist also der Jazz, der als musikalische Kategorie vielleicht auf Zhadans Romangestaltung zutrifft, ansonsten aber weniger.
Zhadans Roman ist mit seinen vierhundert Seiten groß und großartig zugleich. Dank seiner fragmentierten Handlungsstränge, der vielzähligen in ihrer Logik und Kausalität mitunter durchaus abstrusen Diskurse und Ereignisse, seines reichen Aufgebots an Personen sowie der herrlich poetischen Naturbeschreibungen des Ich-Erzählers Hermann, immer on the road und gern überall dabei – daraus entsteht diese von Salzmann angesprochene erzählerische Kraft und poetische Wirkung. Und dazu passt bestens das episodische Liebesleben des eher antiheldischen Romanhelden mit seinem etwas verspäteten Coming of Age. Dennoch kommt er fast unerwartet ans Ziel und es trifft uns Lesende voll, weil wir endlich begreifen, was den ganzen Text und das Leben seiner Figuren zusammenhält.
Und mehr noch: worin in dieser Zeit die eigentliche Kraft und Stärke der Menschen in der Ukraine liegt: in „Dankbarkeit und Verantwortung. Ignoriere nicht die Lebenden. Und vergiss nicht die Toten“, Worte, die wohl nicht zufällig einem Stundenpriester in den Mund gelegt werden und von einer Weisheit zeugen, die überzeugt und trägt.
Nicht nur über Jahrzehnte schon dieses Buch und seinen Autor Serhij Zhadan, diesen Poeten, Sänger und Aktivisten, in seinem unerschöpflichen Engagement für die und an der Front. Sondern auch uns, diesem Krieg so fern und nah zugleich.
Fotografie: Jörg Landsberg
Nun ist die intermediale Übersetzung eines oft lyrischen Prosatextes für die Theaterbühne sicherlich kein simples Unterfangen. Eine geeignete Sprache will, Stimmen wollen gefunden sein, vor allem aber ein poetisches Verstehen der Sinnhaftigkeit und seiner Charaktere. Auf dass die erzählerische Kraft des Textes auf die Bühne hinüberschwappe.
Dass so etwas dem Regisseur Armin Petras gelingen kann, bewies er eindrucksvoll, als er 2018 einen Text seines Alter Ego Fritz Kater am Kleinen Haus des Bremer Theaters inszenierte: Love You Dragonfly – Sechs Versuche zur Sprache des Glaubens, ein Stück zum Thema postsozialistischer Vergangenheitsbewältigung (s. die Rezension per Klick hier unten).
In der aktuellen Bremer Inszenierung wird das zumindest in manchem Bühnenbild realisiert wie beispielhaft jenem in den intensiv leuchtenden blaugelben Landesfarben (s.o. Blogtitel) sowie auch bewundernswert in der Fotografie von Jörg Landsberg.
Doch das in einigen Kritiken so hochgelobte Stück bewährt sich – zumindest in den drei Stunden der Voraufführung – recht wenig, was Text, Dramatik und Kulissen angeht. Und auch die Bühnenfiguren, angefangen beim erschreckend blassen Protagonisten, dem – anders als im Roman – überhaupt kein darstellerischer Raum zur Tiefenwirkung geboten wird. Auch allen anderen und selbst den weiblichen Figuren nicht. Wo doch seine Erfahrungen mit Frauen, und keinesfalls nur die erotischen, für diesen Hermann so glaubwürdig wichtig sind. Und nicht nur in der Beziehung zu Olga, die nirgends unerwähnt bleibt, wohl weil sie vorschnell dingfest gemacht werden kann, sozial als Buchhalterin des Kleinunternehmers Hermann sowie in ihrer Funktion als Frau, die er liebt.
Solch Reduktion auf schematische Rollenbilder widerspricht den komplexen Charakteren des Autors, spiegelt sich aber auf dem Theater hier eher in hölzernen, künstlich-karikierten Figuren in mitunter wunderlicher Kostümierung.
Auch musikalische Verfremdungseffekte beleben die Aufführung bestenfalls nur schwach, auch wenn gospelnder Folk und schräge Trompetenklänge sich dem Titel von Stück und Roman andienen, doch mit „Jazz-Chorgesang“ und den beiden zitierten US-Ikonen des Jazz hat das natürlich wenig zu tun.
Die Lehre des philosophischen Geburtstagskindes, das seinen 300. im April in diesem 2024 begeht, seine Gedanken zum Thema Geschmacksurteil wohl im Kopf, soll an dieser Stelle für zwei ganz anders argumentierende Stimmen zitatweise Raum gegeben sein, oben im butenunbinnen-Video hier unten von nachtkritik.de.
Kommentar schreiben