Ein „genreüberschreitender Musiktheaterabend“ laut Theaterzettel „in zehn Bildern“. Nur zehn?! Wohl eher ein extremes Understatement angesichts zweieinviertelstündig wallender barocker Musiken von Bach, Händel, Lully, Monteverdi, Purcell, Rameau, Telemann und Vivaldi. Mit Solist*innen und Chor, Streichquintett und Band mit E-Gitarre und -Bass, Klavier und Keyboard, Trompete, Flügelhorn und Schlagzeug.
Die Playlist von Spotify mit den Originalkompositionen gibt zwar eine Vorstellung von der Bandbreite der Musiken und wir stellen davon ein Drittel hier auch vor. Wenigstens, um einen ersten musikalischen Bezugsrahmen zu schaffen.
Jedoch das musikalische Arrangement auf der Bühne mit seiner immer wieder besondere Akzente setzenden Instrumentierung schlägt ganz eigene, überraschende Wege ein. Und bleibt nur dem eigenen Erleben im Theater überantwortet. Tondokumente dazu liegen nicht vor.
Was anfangs Assoziationen an ein Musical aufruft, mit Bildern zeitgenössischer Protestbewegungen und ihren Slogans bestückt, wird dann dank auch großartiger Solist*innen wie Yang Ge, Jovey und Odin Biron, eine ins 21. Jahrhundert gerockte Barockoper in Fragmenten, die sich von traditionellen Performances der Oper verabschieden und kunstvoll eine neues Klanggebilde aus mehreren Jahrhunderten weben.
Dem entspricht das Mosaik einer farbgewaltigen Bilderschau im Bühnenhintergrund wie auf dem großen Mobilscreen, perfekt kalibriert von Video- und Lichtdesign und dabei die Raumdimensionen auslotend. Simultan dazu mal Sprech- dann wieder hinreißendes Tanztheater mit der faszinierenden Miniatur des Tanzes einer grauen Plastiktüte, zu der sich schließlich noch eine weiß gewandete Tänzerin gesellt.
Und auch keine Angst vor Kleinkunst, eigentlich eine große Kunst artistischer Unterhaltung, wenn Tilo Werner seine vielsprachige musikalische Clownerie in den vorderen Parkettreihen zelebriert.
Ein Potpourri also audiovisueller Eindrücke und Emotionen jagt dann direkt nach der Vorstellung durch den Kopf, ausgelöst durch den kreativen Wahnsinnsreigen von Kirill Serebrennikov, seinem musikalischen Leiter Daniil Orlov und dem großartigen Ensemble vor, auf und hinter der Bühne.
„Der russische Regisseur brennt für Musik, Oper, Schauspiel, Film und Tanz, mehr noch aber brennt er für das alle Gattungen überschreitende und verschmelzende Gesamtkunstwerk – in Opern- und Schauspielhäusern oft erträumt, doch kaum je zu sehen“, schreibt Intendant Joachim Lux. Mit der Hamburger Fassung von Barocco habe er dann seine ästhetischen Wünsche umgesetzt: Seine Version von Musiktheater, eingebettet in die anderen Gattungen wie Schauspiel, Film, Tanz.
Aus dem oft überbordenden verbalen Inflationslametta der Kritik kann sich nun der Wagnersche Begriff wieder freimachen: Gesamtkunstwerk! Hier haben wir es erlebt und erst langsam kommen die Worte dafür.
Und die wühlen sich, nicht zum ersten Mal, durch die eigene sehr persönliche Idee von Barock aus der Jugendzeit hindurch: Erinnerungen an die besänftigende Kraft von Bach & Barock nach unseren Beatkonzerten, die beeindruckende Abilektüre des Simplicissimus und manch Gedicht von Gryphius (hier unten rezitiert ihn Günther Grass); auch die spätere spöttische Verdammung barockschwülstiger Architekturen und Rubenscher Fleischkolosse.
Später dann wird in der Auseinandersetzung mit Ideen des Postmodernismus stückweise immer deutlicher:
Das Zeitalter des Barock vor vier Jahrhunderten ist unserer Zeit weltweiter geopolitischer Umbrüche, Kriegs- und Klimakatastrophen, von Pandemien und innerer gesellschaftlicher Zerrissenheit als eine Epoche auch heute ungleich verteilten unermesslichen Leids – beileibe nicht so fern. Historischer Wandel verändert vielleicht nur das allzu Konkrete aktueller Szenarien.
Kriege, Glaubenskämpfe, marodierende Söldnertruppen, Epidemien, Verwüstung und Entvölkerung, massenhaftes Sterben, große soziale Ungerechtigkeit durch Leibeigenschaft auf unserem Kontinent, der andere Erdteile bereits unter das Joch seiner eigenen Kolonialherrschaft gezwungen hatte und zwang – Stichworte einer Zeit, die sich im aufwändigen Repräsentationsstil absolutistischer Königs- und Fürstenhäuser selbstgefällig spiegelt. Da passt sich die neuzeitliche Umgestaltung der Welt durchaus in die alte ein, die allerdings in den ausgebeuteten und rechtlosen gesellschaftlichen Schichten eher noch das Gefühl verstärkt, aus allen gewohnten Bindungen herauszufallen und nach wie vor Spielball des Schicksals zu sein.
Wo damals Bewusstsein gedeihen kann, kommt es kaum umhin, sich stets irdischer Vergänglichkeit, der Schicksalshaftigkeit von Lebensfreude und Glück zu vergegenwärtigen. Darin verwoben zugleich auch Dankbarkeit für das Leben jedes einzelnen Tages, seine Genüsse und Sinnesfreuden.
Im Programmheft Nr. 250 des Thalia Theaters warnt Anna Shalashova in ihrem Essay vor möglichen Missverständnissen: Serebrennikovs Inszenierung sehe „keine spekulativen Parallelen zwischen dem 17., 20. und 21. Jahrhundert. Vielmehr setzt er die Leidenschaft und Zerbrechlichkeit der Barockmusik mit der Leidenschaft und Zerbrechlichkeit von Menschen in Beziehung, die sich zu verschiedenen Zeiten erlaubt haben, auf Ungerechtigkeiten innerhalb des bestehenden Systems aufmerksam zu machen.“
Daher vielleicht für den Nachgeborenen des Jahres 1969 der stets wiederkehrende Verweis auf anklagende Selbstverbrennungsproteste und hier besonders im Angesicht der sowjetischen Auslöschung des Prager Frühlings, für die pars pro toto der Name eines anderen jungen Mannes in seinen Zwanzigern steht, der von Jan Palach. Und immer wiederkehrend ebenfalls die Auseinandersetzung mit dem Feuer als Element des Schreckens und des Schmerzes, der Auslöschung und Wiedergeburt. Deshalb Feuer&Flammen-Zitate aus Filmen von Andrej Tarkowskij sowie die fünfminütige finale Explosion aus Michelangelo Antonionis Zabriskie Point (1970) zu den Klängen von Pink Floyd.
Die Dialektik von Schönheit und Schmerz des Barock habe er in seinem Moskauer Hausarrest vor fünf Jahren für sich entdeckt und damit ein Zeitalter, welches das Individuum, seine Besonderheit und zugleich seine Todesnähe feierte, so Joachim Lux nochmals. Und er zitiert ausführlicher den Regisseur, Artist in Residence am Thalia:
»Die Barockmusik war für mich etwas Neues, ganz anders als all die Spielarten der schwermütigen russischen Romantik. Für mich ist sie sehr zeitgemäß, da gehen Türen zu meiner Gegenwart auf. Die Art, wie hier Emotionen ausgedrückt werden, erschien mir plötzlich vielschichtiger, ambivalenter als die nicht selten etwas simplen Handlungsverläufe traditioneller Opern – fast vergleichbar mit unserer heutigen Zeit.«
"Seit der Postmoderne verknüpfen und überlagern wir gern mehrere Bedeutungsebenen, und die Barockmusik ist ähnlich komplex. Man kann mit dieser engelsgleichen Musik über den Tod nachdenken, über den Schmerz, über Vergeblichkeit und zugleich über die Schönheit von allem. Das Barockzeitalter und seine Musik stehen mit diesen Widersprüchlichkeiten und Uneindeutigkeiten für die grundsätzliche Comédie humaine.
Ich glaube, dass mir diese Musik zwischen der grauen, hässlichen Wirklichkeit, mit der ich mich in den letzten Jahren auseinandersetzen musste, und der Flucht in die Phantasmagorie den Zugang zu einer ›dritten Welt‹ geschenkt hat, zu einer Welt der Kunst und der Freiheit."
Nach der Moskowiter Uraufführung 2018 entwickeln Kirill Serebrennikov und Daniil Orlov »Barocco« nun in einer Hamburger Fassung weiter, Themen fortschreibend, neues Material hinzufügend, anderes weglassend: »Es ist seither so viel passiert, und es ist natürlich etwas anderes, das Stück für ein westeuropäisches Publikum weiterzudenken. Aber das grundsätzliche Thema bleibt: Das Feuer, das Licht bringt und wärmt, aber auch Altes zum Verschwinden bringt – es lässt mich nicht los.« Vor vier Jahren aus Protest gegen die Unterdrückung entstanden, ist »Barocco« zugleich eine Feier der menschlichen Möglichkeiten und ihrer Unzerstörbarkeit. Und es erzählt heute, in einer neu verfinsterten Welt, von Menschen, die im Feuer verbrennen, die selbst zur Flamme werden, um eine mögliche Zukunft zu erleuchten. Und wird damit definitiv zu jener Form eines „musikalischen Manifests“, das gewidmet ist „allen politisch verfolgten Künstlern – in Russland und überall auf der Welt.“
Nichts eindrucksvoller als das letzte Bild auf der dunklen Bühne an diesem Abend: Im Scheinwerferlicht der junge Pianist Daniil Orlov am Flügel, vertieft in sein Spiel nur der linken Hand, die rechte in Handschellen, gekettet an seinen maskierten Schergen – eingerahmt von lodernden Flammen auf dem Screen im Hintergrund...
Schönheit und Schmerz - barock eben.
Dezember 2023 Paul Kroker
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