Es ist für die griechische Choreographin und Tänzerin Tzeni Argyriou (*1977) eine doppelte Rückkehr zur quasi puren Körperlichkeit des Ausdrucks.
Einmal, so bekennt sie es selbst, hatten Medien und Technologien in mehr als zehn Jahren einen beträchtlichen Einfluss auf ihre Arbeit und das zeigt sich prägnant im folgenden Video:
Mit ihrer Wahrnehmung und Einsicht, es gebe "ein proportionales Verhältnis zwischen der Zunahme digitaler Interaktion online und der Abnahme physischer sozialer Bindungen", was sie im Sinne "einer einvernehmlichen technologischen Anonymität" durchaus fasziniert hatte, wenngleich sie die Bedrohung von Privatheit durchaus spürte, versuchte sie, auch inspiriert durch die Geburt ihres ersten Kindes, "Tanz neu zu entdecken und seine verbindende Kraft innerhalb unseres sozialen Gefüges." Konkret bedeutete das für sie, sich "auf die Praxis von Tänzen und Liedern als sozialen Ausdruck" zu konzentrieren.
Und das bedeutete für die Kreation von ΑΝΩΝΥΜΟ: sein "choreografischer Ansatz nimmt die Form einer körperlichen Zeremonie an, eines zeitgenössischen Rituals, das an die Kraft zusammen tanzender Körper erinnert. Wir haben traditionelle Tanzformen als Inspirationsquelle genommen und die formalen Bewegungen, Muster und Rhythmen überschritten, um uns auf die kollektive Begegnung einer gemeinsamen Erfahrung zu konzentrieren."
Das war 2018 und wurde mit großem Erfolg in Athen und Amsterdam aufgeführt. Bevor es zur deutschen Erstaufführung kommen konnte, mussten zwei Jahre Pandemie plus Lockdown abgewartet werden.
ANΩNYMO | Trailer | 2018 from Tzeni Argyriou on Vimeo.
Und heute nach den ersten zwei großen Wellen der Pandemie stellt sich - so die Künstlerin - die Frage, "wie sich das Körpergedächtnis verändert hat."
Sieht man ihr Stück, die Reaktionen auf und vor der Bühne könnte man vielleicht etwas hoffnungsfroher in die Zukunft schauen, was die "jungen Menschen unter diesen Bedingungen" betrifft.
ΑΝΩΝΥΜΟ schafft es geradezu genial nachvollziehbar auszustellen, wie es möglich sein kann, von sich selbst entfremdeten Individuen zu Subjekten mit vollem Körperbewusstsein zu werden.
Vor dröhnender Soundkulisse beginnen sich auf der Bühne, also ihrem Käfig, vier Närrinnen und drei Narren, sieben Figuren - analog zu den sieben Buchstaben des Titels - mit zunächst unkenntlichen Gesichtern, von Haaren und Armen verdeckt, mit verqueren, oft manischen Körperbewegungen zu artikulieren mit Pfeifen, Jaulen, Zischen, Piepen, Quietschen. Ansätze zum Gesang gehen angesichts zweier Affenimitatoren und einer fiktiven Katze unter.
Die verbale Artikulation klärt sich, es klingen auch Vokabeln verschiedener Sprachen an, langsam erwachen auch die Körper zunächst aus Marionetten ähnlichen Bewegungen zu chorischem Atmen und tänzerischer Gruppenbildung, die in einem fingierten Selfie-Ensemble gipfelt.
Stärkerer Trommelsound lässt die Sieben über die Bühne stürmen mit Ansätzen zur Ekstase, die aber wieder in Vereinzelung endet. Die Figuren häuten sich hin zu einem bühnentauglichen Outfit, stellen sich dann begleitet von hellen weichen Metallklängen, in Formation auf zu einer gemeinsam tanzenden Truppe in dramatischem Marschier-Stampf, die sich ebenso leicht auch wieder auflöst mit befreienden Ausrufen, ohne den Rhythmus zu verlieren.
Schließlich vereinigen sich alle nach gut der Hälfte des Spektakels zu einem sich steigernden, exaltierten Diskotanz - Sound und Tanz machen den Höhepunkt klar: die Körper sind da! Abrupter Stopp - Atempause nach dem Koitus.
Und zum Zirpen von Grillen und Zikaden bewegen sich in geradezu antiker mediterraner Eintracht die sieben Körper in vollendeter Harmonie.
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