Birgit Freitag
›Vermutungen über (…)‹
Welche Merkmale sind für das Bild, das wir uns von unbekannten Menschen machen, entscheidend? Sind es Alter, Geschlecht, Körpergröße, soziales Umfeld oder Kleidung? In ›Vermutungen über (…)‹ sucht die Choreografin Birgit Freitag nach anderen Möglichkeiten und wagt sich dafür an einen ungewöhnlichen Versuchsaufbau. Sie arbeitet mit zwei Tänzerinnen, die einander nicht kennen und sich erst am Ende des Probenprozess persönlich begegnen. Mehrere Wochen kommunizieren beide nur schriftlich miteinander und stellen immer wieder neue Vermutungen darüber an, wer ihr Gegenüber ist. Diese sind die Basis für Bewegungssequenzen, die die Tänzerinnen füreinander choreografieren und miteinander austauschen. Im Erlernen und Umsetzen dieser Bewegungszuschreibungen setzt sich das spekulative Kennenlernen fort, bis sich die beiden schließlich auf der Bühne begegnen und das Material auf seine Erzählkraft hin untersucht wird.
So die off. Ankündigung
Zwei junge Frauen präsentieren sich auf der Bühne in einem ziemlich starken Kontrast: Am Fitness-Rudergerät ganz sportlich die eine, die andere nur mit ihrem langen Blondhaar, das weich über die tiefblaue samtige Sofalehne fällt und eine sinnliche Situation eröffnen könnte.
Ein Prozess wochenlangen gegenseitigen Kennenlernens und Kommunizierens allerdings auf Distanz soll nun im selben Raum, auf derselben Bühne sich in einem Spiel der Bewegungen darstellen, das von einer seltsamen Kälte geprägt ist, als hätten die beiden Frauen, die Regularien ihres Spiels als real vorausgesetzt, eigentlich gar keine Beziehung zueinander aufbauen können. Es bleibt ein eigenartiges Taxieren beim Filmen, Anprobieren von Kleidungsstücken, protokollartigen Bemerkungen am Mikro. Kaum dass sie sich einmal berühren, sich in ihren Gesten, in ihrer Mimik Emotionen abzeichnen.
Gefühlsbewegungen scheinen nicht zu existieren, doch wenn die in der realen Kommunikation nicht stattgefunden haben, hätten sie nun auf dem Theater, dem Tanzboden den Platz, in einer großen Fiktion losgelassen - apropos das Thema "loslassen" dieser Schwankhallen-Produktionen! - hier also freigesetzt zu werden.
Und in der Tat wird eine gewisse Starrheit der Bewegungsabläufe denn auch durchbrochen von aufgestauter Dynamik, die unsere Fotos einfangen.
Und die schließliche Rückenansicht gegen Ende des Stückes lässt dann noch einmal etwas von der eingangs vermuteten Sinnlichkeit aufblitzen.
In unserer kapitalistisch geprägten Gesellschaft werden alte Körper oft
über ihre Defizite definiert – darüber, was sie nicht mehr können und nicht mehr sind. Alte Körper konfrontieren die jüngeren mit ihrer eigenen Vergänglichkeit und dem drohenden Verlust von
Leistungsfähigkeit. In ›Dreams in a Cloudy Space‹ unterzieht Antje Velsinger diese Sichtweise einer Revision und bezieht die (Selbst-) Wahrnehmung älterer Menschen
ein.
Aufbauend auf ihren Recherchen in verschiedenen Altenheimen und
Senior*innentreffs beschäftigt sich Velsinger mit körperlichen Qualitäten jenseits von Effizienz. Auf der Bühne begegnen sich eine 35-jährige und eine 75-jährige Tänzerin. Sie suchen Halt,
sinken, fallen, stützen sich, genießen und nutzen diverse Tricks, um den Alltag zu meistern.
›Dreams in a Cloudy Space‹ lässt die Grenzen zwischen Aktivität und
Passivität, Isolation und Rückzug, Freude und Resignation verschwimmen und fragt danach, mit welcher Haltung wir altern können.
Soweit die offizielle Ankündigung.
Aus der Unterkühlung des einen, in die Wärme des anderen Saales - ein Unterschied in der Raumtemperatur wie in der Atmosphäre des ganzen Stückes.
"Im Vorfeld der Produktion", so die Choreografin, habe sie eine ganze Reihe von Interviews geführt "mit Menschen zwischen 75 und 95 Jahren" über Themen wie "Berührung, Halt, Grenze und Loslassen". Die Begegnung zweier Performerinnen mit einem Altersunterschied von vierzig Jahren zeigte einerseits erwartbare Differenzen in ihrer Perspektive auf verschiedene Themenfelder, aber auch "bei den Proben eine starke Offenheit und Sensibilität füreinander". Und die Ausgangsfrage von Antje Velsinger: "Wie kann ich eine 75jährige Tänzerin zu einem zeitgenössischen choreografischen Prozess einladen. ohne diesen ihr überstülpen zu wollen?" - diese Frage hat eine überzeugende Antwort gefunden in dem lustvollen Spiel der betreffenden Performerin. Die gleich zu Beginn herzhaft und rücklings auf ihrem Rollator herein- und dann wieder hinausrollt, zu jedem Zeitpunkt eine adäquate und gleichberechtigte Bühnenpräsenz realisiert und uns Zuschauende von der herzlichen künstlerischen Kooperation der beiden Frauen überzeugt.
Die ästhetische Dimension des Tanzes - und das wird im Schlussmonolog der Älteren Was ich an Bewegung mag schlagartig deutlich - würde sich durch intensivere tänzerische Bewegungen, vielleicht auch zusammen mit ihrer Partnerin, durchaus steigern lassen. Zu solch einer sinnlichen Intensität, wie sie im Vorjahr von der YET Compagnie im Tanzstück umarmen zu erleben war und im Video noch ist.
Unbedingt aber sind diese Dreams auch eine kulturelle Empfehlung an die Bundesarbeitsgemeinschaft der Seniorenorganisationen (BAGSO), die aktuell ihre Jahrestagung in Hannover abhält.
27.11.2021
Ante Velsinger_Dreams_┬®Imke Lass
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