Mutterland, Kiew (2023)
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Gemälde von Nazanin Pouyandeh
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Theatertreffen: "Das große Heft"

Krieg. Hungersnot. Zwei Kinder, zwei Mäuler zuviel. Von der Mutter ausgesetzt bei Großmuttern, vor Ort Hexe gerufen. Zufall, dass Ágota Kristófs Roman „Das große Heft“ Reminiszenzen an „Hänsel und Gretel“ wachruft? Da geht das wohl märchenhaft aus, bei Kristóf mutiert´s zum Antimärchen. Zum Schauerroman sogar, allerdings ohne schauer-romantische Effekte.

 

„Bis der Krieg aus ist“, sollen die Zwillingsbrüder dort am Rand der Zivilisation überleben. Ihre eigene Geschichte erzählen sie emotionslos im „großen Heft“.

Diese Erzähler-Idee geht nur auf, wenn man sie nicht allzu ernst nimmt. Denn schwer nur wird die Erzähleridentität der Heranwachsenden wirklich einsichtig, weder von der Gesamtkonstellation her noch vom Kunstcharakter der Sprache. Der wiederum ist hinter deskriptivem Stil und parataktischem Bau auch nicht gerade leicht auszumachen. Vielleicht dann, wenn aus einer erwartbaren umgangssprachlichen Setzung sich doch noch ein Satz ergibt. Fast ein naives, infantiles Sprachgebaren, handelte es nicht von einer Höllenwanderung.

Was aber macht nun Ulrich Rasche daraus, der das Buch vor fünfzehn Monaten in Dresden höchst erfolgreich auf die Bühne brachte? Als geradezu monumentales Theater, das nun beim Theatertreffen auch in Berlin zu erleben war. Übrigens seine dritte Regiearbeit in Folge, die zu dieser Ehre kommt.

Zunächst einmal wird dieses Coming-of-Age in Zeiten von Krieg und Elend anfänglich nur von einer und wechselweise von beiden Heranwachsenden berichtet, zu denen sich alsbald die Stimmen von sieben weiteren Paaren hinzugesellen, die ebenfalls in bestechender Artikulation den Erzählpart abwechselnd übernehmen bis hin zu chorischen Einsätzen im marschierenden Männerkörperblock.

 

Selten blitzt dabei Emphase auf während dieses präzise getakteten rhythmischen Marschs im täglichen Überlebenskampf – anfangs sogar gegen die feindselige Großmutter, später fast solidarisch gemeinsam mit ihr. Der Alten ist es nie vergönnt – so wenig wie übrigens auch ihrer Tochter, der Zwillingsmutter – auch nur ein kleines Zeichen von Wärme zu zeigen, geschweige denn von Liebe. Immer unerbittlicher dann der Kampf der beiden Jungen bis hin zur körperlichen Selbstkasteiung. Um jegliches Schmerzgefühl auszumerzen und um unempfindliche Körperpanzer zu werden zum Zwecke nackten Überlebens. Nur zwei-, dreimal öffnet sich ein kleiner Riss in dieser Fassade, der den Blick aufs Humane freigibt.  

Auf die höhnische Frage der feixenden Alten, warum die „Hundesöhne“ ihr denn nun um Himmels willen hülfen, kommt als überraschende Antwort: 

Da blitzt es auf das Moment des Ethischen, eben das von der Großmutter verpönte Mitgefühl, dieser erste Anflug von Verantwortung. Fast scheint das verloren zu gehen auf dem dreieinhalbstündigen Marsch der Brüder durch den Matsch des eigenen Lebens, scheinbar jenseits von Raum und Zeit.

 

Das Publikum und ich mit ihm beeindruckt und zugleich erst einmal verunsichert: Wie das alles einordnen, wo doch kein historischer Bezugsrahmen in Sicht? Dabei machen Autorin und Inszenierung gar nichts anderes als Bertolt Brecht in seinen historischen Verfremdungsdramen und im Sprachduktus seiner Lehrstücke, an den die Übersetzung des Romans sich anlehnt. Heißt: Ich, Du, wir alle müssen die Wand der Abstraktion durchstoßen. Und das wird im Verlauf der Aufführung auch immer konkreter erkenntlich durch Schilderungen von Krieg, Bombardierung der Städte, Besetzung durch feindliche Truppen, Schändung der Bevölkerung vor allem der weiblichen.

Vor der Pause weitgehend noch auf uns selbst verwiesen – angesichts von Grundfragen menschlicher Existenz, die die Erzählung der Zwillinge immer wieder aufwirft –, weitet sich der Horizont im zweiten Teil hin auf „Abstraktion und historischen Hintergrund“, so der Titel des hoch informativen Beitrags vom Dresdner Chefdramaturgen im Programmheft. Der Schleier, den er darin lüftet, schwebt im Stück dagegen weiterhin so genial darüber wie die Rauchwolke in einigen Szenen, die hier angenehmerweise nicht ins Parkett verpufft.

Allein Signalwörter wie Krieg, Lager, Besatzung sollten allerdings reichen, um im Publikum Assoziationsräume zu eröffnen, die Haltungen und Verhalten herausfordern.

Dass diese Dresdner Inszenierung zu einem großartigen Kunstwerk wird, ist gleichfalls der Tatsache geschuldet, dass die Textcollage zwei Sprecher-Parteien als Monolog in den Mund gelegt wird, wo in dieser ununterscheidbaren kompakten männlichen Menschenmasse jegliche Individualität verschwindet, was schon mit dem ersten Zwillingspaar beginnt.

Ein kollektives Subjekt also, das aber auf der Bühne nicht agiert, sondern, getrieben von Technik und Motoren, von seinem Handeln fortwährend im Präsens nur zu erzählen weiß. Stets marschierend, mal in Stiefeln, meist barfuß, oft mit bloßem Oberkörper.

Schaustellung von Virilität, faschistoider etwa? So wurde da schon mal kritisch angefragt. Oder eher ein lemminghafter Abmarsch in die Tiefe, wenn die Maschinen abgeschaltet werden? Wobei sich hier nichts wirklich ausschließt.

Auf rotierender Scheibe als möglicher Manifestation immerwährenden Kreislaufs von Geschichte, variiert nur durch das Auf und Ab wie auf einem Rummelplatz. Eine zweite Rotor-Scheibe gesellt sich dazu und füllt das minimalistische Bühnenbild mit Dynamik auf, ja mit Dramatik, wenn sich die eine gegen die andere aufbäumt. Und die Spielersprecher in je unterschiedlicher Konfiguration wie auf einer Klippe hoch oben in Rezitation und Marschtritt befangen bleiben. Ohne den Blick in den Abgrund.

Das alles nicht nur unterlegt, sondern befeuert von einem Klangteppich  (Drums/Bass/Violine/Cello) orkanartiger Wellen, die einmal dank auch des Dresdner Universitätschors mit Mozart (Requiem in d-Moll) in ferne Opernwelten hinaustragen.

Während der dröhnende Dauer-Sound das ewige Kreisen der Scheiben mit ihren darauf agierenden Mannschaften akustisch begleitet und motiviert.

Eine wahrhaft geniale Klang-Performance. Nicht zuletzt sie trägt entscheidend dazu bei, dieses Bühnenstück aus Wort, Deklamation, Choreografie, Bühne, Licht zu einem ganz eigenwilligen Gesamtkunstwerk zu formen.

 

 

Kleiner Missklang nach etwa drei Stunden: Das Finale. So wichtig im Roman das Schlusskapitel über die Rückkehr des Vaters der Zwillinge auch sein mag (zum inhaltlichen Hintergrund hier nochmal Jörg Bochows aufschlussreicher Text im Programmheft), auf der Bühne bringt das dramatisch nichts mehr.

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